Pester Lloyd | J. A. Tillmann | essay | September 1993 | German
Der ungarische Minimal-Musiker Tibor Szemző
Vor Jahren empfing mich einmal im Studio von László Hortobágyi ein unvergeßliches Bild: Im akustischen Aquarium hinter der Glaswand preßte Szemző ein handtellergroßes Taschenradio an sein Ohr und dreht den Abstimmungsknopf, während er angespannt in das Ätherchaos lauschte. Ab und zu, wenn er einen geeigneten Sender gefunden hatte, schwenkte er das Gerät langsam vor dem Mikrofon. Dann nahm er die Klangquelle (den Klangkörper?) wieder ans Ohr und setzte die Suche fort… Musik für ein Video entstand.
Natürlich erschöpfte sich nicht der ganze Prozeß des Komponierens und Interpretierens in diesem Vorgang; daneben erklangen “reine” Musikaufnahmen, zu denen sich die wohldosierten Zwischentöne der peripherischen Turbulenzen gesellten. (Dank er geschickten Handhabung schwebten sie nieder und davon wie magische Klangvorhänge.)
Dieses Bild gestattet nicht nur Einblick in das Quellenreich von Szemzős “angewandten” Tonschöpfungen, sondern spiegelt auch das kreative Verhalten wider, mit dem er auf die Stimmen, Klangquellen, Traditionen und Lautsprecheranlagen der Umwelt, des “Hintergrundes”, im weitesten Sinne des Wortes reagiert. Ohne den kontextualen Zwängen nachzugeben und sich den Postulaten des Milieus, der “Gattung” zu beugen, geht er frei mit ihnen um, gebraucht er sie schöpferisch als Fäden seines eigenen Klanggewebes. Diese Auswahl- und Kreuzungsgeste gilt für die konkreten Töne, Umweltgeräusche und Textfragmente ebenso wie in bezug auf die verschiedenen musikalischen Traditionen und geistigen Wirkungen in seinen Werken.
Magnesiumblitze im Bewußtsein
Szemző absolvierte ein klassisches Musikstudium als Flötist. Die ernsteren Richtungen der angeblich leichteren Muse berührten ihn gleichermaßen wie die markanten Strömungen der Gegenwartsmusik oder der mannigfaltigen Ethno-Schichten. Ende der siebziger Jahre musizierte er mit György Szabados in der Werkstatt Zeitgenössische Musik. Er spielte eine zentrale Rolle in der um 1980 entstandenen “180er Gruppe” und durch sie bei der Propagierung der Minimalmusik, der Werke von Terry Riley, Steve Reich und Philip Glass in Ungarn. Mit seinem “Wasserwunder 1.” (1982) auf der ersten Schallplatte der Gruppe bewies er bereits, daß er die Stücke der obigen Autoren nicht nur ausgezeichnet zu interpretieren, sondern auch selbst Ebenbürtiges zu liefern vermag. Dieses Flötenwerk, benannt nach einem Kinderspiel, ist nämlich wirklich ein Wunder; ein Meisterwerk, das die gemeinsame Wellennatur von Wasser und Musik hörbar macht. (Die der Stille entwachsende Wellenschlange wird durch ein Aufnahme- beziehungsweise Abspiel-Tonband zu Gehör gebracht, was mittels Rückkoppelung der Live-Stimme den Aufbau mehrstimmiger Melodienzüge ermöglicht.)
In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten wirkte Szemző bei verschiedenen Performance-Vorstellungen (Szirtes, Forgács u.a.) mit; seine diesbezüglichen Erfahrungen bringt er in den verschiedensten Stücken und Konzerten als belebendes Element ein.
Unlängst erschienen zwei Szemzö-CD: “Ain’t Nothing But a Little Bit of Music for Moving Pictures” und “The Conscience” (letztere ediert von BBS und Leo Records London). Die Stücke der ersteren entstanden im Zusammenhang mit laufenden Bildern von Péter Forgács. Zu Episoden aus der Amateurfilmreihe “Privates Ungarn” schuf Szemző in seiner Musik eine andere ungarische Privatwelt, die den Bildern keineswegs an Darstellungskraft nachsteht. Der wahre – zur Entstehungszeit noch unbewußte -Gegenstand dieser Filme ist nämlich die Zeit, die entschwundene, die Filmoberfläche schleier-haft durchschimmernde Zeit der ersten Jahrhunderthälfte. Die Musik, die als lebendiger Kontrapunkt zu diesen Bildern erklingt, stammt dagegen vom jetzt auslaufenden Jahrtausend. Auch wenn vereinzelt historische Hinweise enthalten sind – zum Beispiel das Knirschen einer alten Schallplatte, das eines der schönsten Stükke gegen Ende überlagert - dringt hörbar eine andere Zeit, ein anderes Leben, ein anderes Vernehmen durch. In der überwältigenden Kette der Klangfarben und Nuancen schwirren gemeinsame und persönliche Bilder der jüngsten Vergangenheit, dicht durchstrahlt von den unrettbar zu uns gehörenden, schmerzgekräuselten, leid- wie wonnevollen Tagen des Gestern.
Verzückte Thanatologische Traktate
Die “Conscience”-CD – Untertitel: “Narrative Chamber Pieces” – enthält einen Querschnitt des Szemző-Oevres aus den achtziger Jahren. Diese Text-Werke befinden sich – wie seine Musik überhaupt – im Grenzbereich der verschiedensten Traditionen und Gattungen. Das früheste Stück der Scheibe, “Der Sex-Appeal des Todes” (1981), entstand nach dem Text eines gleichnamigen unverständlicherweise bis heute unveröffentlichten! – Vortrags von Tibor Hajas. Der Text über das Mysterium des Todes wird von einem Kind vorgelesen, das seine eigene Stimme über Kopfhörer etwas zeitversetzt wiederhört. Dadurch ertönt der besonders poetische, auch Pathos und Erhabenheit nicht entbehrende thanatologische. Traktat angemessen langsam, verzückt. So wird die Bedeutung der gewichtigen Sätze durchdenkbar, wählend sie gleichzeitig – infolge des Tonfalls – so fern wirkt wie der ins Unterbewußtsein verbannte Gegenstand des Vortrags.
Zum Text gesellen sich zunächst die Geräusche eines springenden Tischtennisballes, dann die langanhaltenden, breiten Töne verschiedener Instrumente. Ab und zu krachen heffige dissonante Akkorde wie Magnesiumblitze in die geheimen Schächte des Bewußtseins. Die universell gültigen Sätze und beängstigenden Melodien lassen die scheintote ungarische Tiefen-welt, die eisige Furcht und die Grabesstarre der siebziger Jahre ahnen. (Die von mir gehörten, unterschiedlich instrumentalisierten und improvisierten Live- Vorstellungen waren übrigens immer kraftvoller als die Studioversionen.)
In der chronologisch folgenden, fast dreißig-minütigen “Schädelbasisfraktur” (1984) wird bereits eine ganz andere Welt hörbar. Aus der Gedächtnisferne einfacher Klavierakkorde betritt man den akustisch immer konkreteren Raum einer filmartigen, vom Narrator vorgetragenen Geschichte. Die sukzessiv einsetzenden Streicher verleihen der immer bizarreren Erzählung anfangs lyrische Perspektiven. Später erscheint neben dem Textfluß, der sich dem Dadaistisch-Absurden zuwendet, die allmählich erstarkende tiefungarische Musik der Zigeunerkapelle von Jenő Oláh… In diesem seit der Urfassung beim Plänum-Festival 1984 wesentlich veränderten Stück gelang Szemző das Unmögliche: die Harmonisierung und klingende Vereinheitlichung des phänomenal bunten Gebietes von der Folklore über den ständigen Schallschmelz der mediatisierten Welt bis zur Klassik. Obendrein bilden dabei seine – in diesen Breiten unvermeidlich bittersüß erlittenen – Gefühle einen gemeßbaren Grundton!
In Anbetracht der Werke auf den beiden früheren Szemző-LPs – “Snapshot from the Island” (1987, Leo Records); “Private Exits. 8 Soundscapes from the Island” (1989, HPS Records) -sowie der zum Teil von ihm komponierten und auch auf Platte edierten Filmmusik zu “Meteo” läßt sich behaupten, daß mit seinem Namen eines der bedeutendsten musikalischen Lebenswerke des letzten Jahrzehnts verknüpft ist. Und natürlich die Hoffnung auf Fortsetzung…
Von J. A. Tillmann