Neue Zürcher Zeitung | Ueli Bernays | review | 17 August 2000 | German Zürcher Theaterspektakel Free Fall Oratorio von Szemző/Forgács Im Zentrum der multimedialen Performance Free Fall Oratorio steht unscheinbar der Zeitzeuge – der Mann hinter der Kamera, der jüdische Geiger György Petö, der die alltäglichen Geschichten seiner jüdischen
Familie auf 8-mm-Filmen festhielt, während 1939 Hitler Polen den Krieg erklärte, während Ungarn 1940 dem Dreimächtepakt beitrat, während der Holocaust schliesslich auch in Ungarn geschah. Der Musiker Tibor Szemzö und der Videokünstler Péter Forgács haben Petös private, anekdotische Bilder zusammen mit zeitgenössischen Bild- und Tondokumenten zu einem neunzigminütigen Kontinuum montiert Was nun aber hinter der Bühne grobkörnig und in meist verwitterten Grautönen über die grosse Leinwand flimmert, wird auf der Bühne – als Ort historischer Distanz – sprachlich und musikalisch untermalt oder kommentiert. Der Hauptstrom der Musik ertönt aus der Konserve: scheinbar statische Klänge zwischen folkloristischem Ambient und einer jazzigen Minimalmusik, deren zeitlupenhafte Entwicklung die langsame Dringlichkeit historischer Prozesse nachzuvollziehen scheint; mitunter werden überdies Knistergeräusche der Bildspur rhythmisch in die Tonkunst integriert. Wie Einzelstimmen, die die gesellschaftliche Totalität durchbrechen, nehmen sich dagegen die Live-Aktionen der Musiker und Schauspieler aus, die sich hinter kleinen Pültchen eingerichtet haben wie die Mitglieder eines Streichquartetts. Tibor Szemzö dirigiert, den Rücken zum Publikum, zum einen die Einsätze der Geigerin und des Sängers, der in einem quälend leidenschaftslosen Rezitativ verschiedene Paragraphen aus den ungarischen Judengesetzen intoniert – einer Art Köchelverzeichnis der Diskriminierung. Zum anderen die knappen Bildkommentare des Sprechers: “György’s father, His bride
Eva, His mother died in the concentration camp”. Bis 1944 blieb den ungarischen Juden das Schlimmste zwar erspart Sie wurden aber
aus führenden Positionen entlassen. Mischehen wurden untersagt. Die jüdischen Männer internierte man in Arbeitslagern. Der Titel der Performance deutet indes ein tödliches Finale an. Tatsächlich wurden 1944 auch die ungarischen Juden zu Hunderttausenden in KZ deportiert und umgebracht Petö und seine Frau überlebten. Das multimediale Theaterstück von Szemzö/ Forgács spielt mit den Kontrasten und Parallelen zwischen gnadenlosen Geschichte und individuellen Lebenserfahrungen. Dabei werden die verschiedenen künstlerischen Medien in einer meist plausiblen ästhetischen Logik orchestriert. Eine gewisse Schwäche zeigt sich aber in mangelnder Dynamik; denn die Montage der bald charmanten, bald witzigen, an sich aber harmlosen Amateuraufnahmen von Spaziergängen, sportlicher Ertüchtigung, Jagdszenen, Winterlandschaften, Familienfeiern generiert ebenso wenig Spannung wie die atmosphärische, wolkenhafte Minimalmusik. So gewinnt denn diese Aufführung ihre Dramatik fast ausschliesslich aus dem Wissen um das katastrophale Ende. Ueli Bernays Zürich, Schaubühnchen, 17 August 2000 Neue Zürcher Zeitung, 19 August 2000